Freitag, 24. Oktober 2008

AMR 15 zu Punkt 04

Der Mann, der zum Sterben auf den Hochsitz ging
Mindestens 24 Tage verbrachte Peter Z. auf einem Hochsitz, bis er starb. Warum entschließt sich ein 58-jähriger Mann zu verhungern? Kurz vor seinem Tod sprach er von der Einweisung in die Psychatrie. Und einem Arbeitskollegen vertraute er seine letzten Worte an: „Ich bin doch kein Rentenanwärter."
• Hartz-IV-Speiseplan im Praxistest
• Tod im Hochsitz
Es muss der 6. Dezember 2007 sein, als ihm das Leben endgültig entgleitet. In seinem Notizbuch wird Peter Z. notieren, heute müsse wohl Nikolaus sein. So genau weiß er das jedoch nicht mehr. Peter Z. hat schon seit Wochen keinen Bissen Nahrung mehr zu sich genommen, von der Öffentlichkeit unbemerkt, ist er in einen Hungerstreik getreten.
In einem blauen Notizbuch protokolliert er seinen eigenen Verfall mit der Genauigkeit eines Forschers, der einem Insekt beim Sterben zusieht. Wie er abmagert. Wie er spürt, dass langsam das Gefühl aus seinen Gliedmaßen schwindet.
Peter Z. hockt auf einem Hochsitz am Rande eines Fichtenwäldchens im Solling, in der Nähe eines Dorfes namens Schlarpe. Der Hochsitz ist überdacht, er wird von drei Seiten von Brettern umschlossen, nur 30 Zentimeter breite Sehschlitze geben den Blick in die Natur frei.
Einen Steinwurf entfernt führt ein Erlebnispfad durch den Wald. Er wird von Joggern und Spaziergängern frequentiert. Peter Z. hätte um Hilfe rufen können. Er hat es nicht getan. Er weiß, dass er dieses Versteck nicht wieder lebend verlassen wird. Er hat beschlossen, zu sterben.
24 Tage auf dem Hochsitz
“Der schläft“, war der erste Gedanke des Jägers, der ihn dort am vergangenen Freitag gefunden hat. Z. lag auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, die Hände hinterm Kopf verschränkt. Durch den Mangel an Flüssigkeit und die Kälte war der Leichnam mumifiziert.
Mindestens 24 Tage, so wird die Polizei später rekonstruieren, hat Peter Z. auf dem Hochsitz verbracht und darauf gewartet, zu sterben. Ganz still und heimlich hat er sich aus dem Leben gestohlen. Die, die ihn näher kannten, sagen heute, es wundere sie nicht. Sein Tagebuch ist sein Vermächtnis. Es ist die Chronologie eines angekündigten Todes.

Peter Z. war 58 und geschieden. Bevor er sich an einem Tag im Oktober aufmachte und 100 Kilometer von seiner Wohnung in Hannover in den Solling radelte, hatte er einen Termin im Arbeitsamt. Sein Arbeitslosengeld war ausgelaufen. Z. hätte Hartz IV beantragen können oder gleich Frührente. Doch er erschien nie im Jobcenter, um den Antrag auszufüllen.
Peter Z. war immer stolz gewesen
Die Geschäftsführerin einer Firma für Hängestühle, für die er jahrelang Auftritte auf Messen organisiert hatte, sagt zu WELT ONLINE: „Das hätte er nie getan.“ Der Peter sei schon immer zu stolz gewesen, um sich helfen zu lassen.
Ein Einzelgänger, der gut reden und noch besser schreiben könne. So hat sie ihn in Erinnerung. Witzige Geschäftsberichte über Messen habe der verfasst. Z. sei mit Leib und Seele Vertreter gewesen, ein echtes Verkaufstalent.
Doch nach einem erfolgreichen Messetag habe er sich lieber in die Natur zurückgezogen, als mit Geschäftsfreunden ein Bier trinken zu gehen. In seiner Freizeit habe er am liebsten gelesen. Philosophische Bücher oder Landschaftsbeschreibungen. „Schwere Kost“, sagt seine ehemalige Chefin. Einladungen zum Essen habe er nur zögernd angenommen. „Für ihn waren das schon Almosen.“
Man hört, wie die Frau am Telefon schluckt. Sie hat seit zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört. Seit dem Zeitpunkt, an dem sich die Firma von ihm trennte, weil sich das Messegeschäft nicht mehr lohnte, brach der Kontakt zu dem Außendienstler ab. “Wir hatten keine Handynummer. Wie ich Peter kenne, hatte der nicht einmal ein Handy.“
Die Geschäftsführerin sagt, sie erinnere sich gerne an Z. Er sei ein „absolut zuverlässiger, loyaler und netter Kollege“ gewesen. Wenn auch nur die geringste Gefahr bestanden habe, dass er am nächsten Morgen zu spät zu einem Termin zu kommen drohte, sei er schon am Abend zuvor losgefahren. Z. lebte damals noch in einem Dorf bei Lübeck. Als Vertreter im Außendienst war er selten zu Hause, seine Ehe zerbrach. Auch der Kontakt zu seiner Tochter Joana wird immer seltener.
Er soll Arbeitslosengeld II beantragen
Die Geschichte des Peter Z. ist keine Geschichte, die als abschreckendes Beispiel für die Folgen von Hartz IV herhalten kann. Sie erzählt von einem individuellen Schicksal. Es geht um einen Mann, dem das Leben Stück für Stück entglitt. Der sich für den Freitod entschied, um wieder Kontrolle zu gewinnen. 2006 laufen seine Geschäfte so schlecht, dass er sich arbeitslos meldet. Z. wohnt jetzt in Burg, einem kleinbürgerlichen Stadtteil von Hannover, in einem dreistöckigen Mietshaus, das bei näherem Hinsehen etwas weniger gepflegt ist als die anderen.
Ein Jahr später läuft sein Arbeitslosengeld aus. Sein Sachbearbeiter schickt ihn zum örtlichen Jobcenter. Dort soll er Arbeitslosengeld II beantragen. Es ist die Endstation seines ehemals erfolgreichen Berufslebens. Viel tiefer kann man nicht fallen. Z. weigert sich, den Tatsachen ins Auge zu schauen.
Einem Kollegen erzählt er, er habe noch „zwei Eisen im Feuer“. Irgendetwas werde er schon noch finden. „Ich bin doch kein Rentenanwärter“.
Es sind seine letzten Worte. Auf den Kollegen macht er da schon einen verstörten Eindruck. Der Mann sagt, Z. neige zu Depressionen. Einige Jahre zuvor habe er schon einmal Selbstmordgedanken geäußert. Er habe davon gesprochen, dass er sich am liebsten in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen würde. Dass er sich die Behandlung aber nicht leisten könne.
Nachdenken über Peter Z.
Daran erinnerte sich der Kollege jetzt wieder, als er erfuhr, dass es Z. sei, der jetzt tot in einem Hochsitz im Solling geborgen wurde. Abgemagert bis auf die Knochen. „Man muss sehr diszipliniert sein, um seinem Leben auf diesem Wege ein Ende zu setzen“, sagt der Leiter der Klinik für Gastroenterologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Michael Manns, zu WELT ONLINE.
"Er hat kein Zuhause mehr gehabt“, sagt der Jäger, der ihn auf einer Matratze im Hochsitz fand, ein Tagebuch neben sich. Tatsächlich hat ihn niemand vermisst, als er im Oktober zu seiner letzten Radtour aufbrach. Die geschiedene Frau von Z. hat wieder geheiratet, seine erwachsene Tochter sagt, ihr Vater habe den Kontakt zu ihr schon vor Jahren abgebrochen.
Joana Z. soll jetzt das Tagebuch erhalten, das seinen qualvollen Hungertod dokumentiert. So hat es Peter Z. verfügt. Der Polizei soll Joana Z. gesagt haben, sie lege keinen Wert auf sein Vermächtnis. Es ist sein letzter Wille, vielleicht auch sein erster. Wie es scheint, verhallt er ungehört.
Artikel vom 14. Februar 2008

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